Freitag, 24. April 2009

Der Matrjoschka-Effekt

„Wer nichts wird, wird Wirt“ lautet ein altes Sprichwort. Und wie das bei Sprichwörtern häufiger so ist, ist dies nicht die ganze Wahrheit. Denn neben der Option, das ganze Leben als Schankwirt in einer schmierigen kleinen Hafenspelunke zu fristen und dabei Gefahr zu laufen, mit der Zeit selbst der beste und abnahmefreudigste Kunde zu werden, boten sich in der Vergangenheit nämlich noch zwei weitere Möglichkeiten an, der Sprichwortfalle zu entkommen: Man ging entweder zu Krupp nach Rheinhausen oder wanderte aus nach Amerika, um dort filmreif vom Tellerwäscher zum Millionär emporzusteigen. Die heutige Situation stellt sich indes etwas anders dar: Krupp-Rheinhausen gibt es nicht mehr und die Vereinigten Staaten pfeifen als Epizentrum einer globalen Finanzmarktkrise gerade selbst aus dem letzten Loch. Welch glücklicher Umstand ist es da, dass sich mit Zusammenbruch des Ostblocks noch eine weitere Hintertür ins Pantheon der Geschichte auftat: In Russland geht nämlich das Konzept der 1-EUR-Läden noch besser auf, als in Deutschland: Selbst Artikel, die hierzulande als Ladenhüter ihr Dasein fristen und wie Blei in den Regalen liegen, verkaufen sich dort wie geschnitten Brot. Man kann nur mutmaßen, aber die Russen haben offensichtlich Freude daran, sich zwischendurch mit belanglosen und unsinnigen Sachen zu beschäftigen. Noch mehr, als die Deutschen. Wie sonst könnte man erklären, wenn ein in Deutschland abgehalfterter Trällerbarde wie Thomas Anders in Russland zu späten Ehren kommt und zum Volkshelden avanciert und ganz nebenbei noch von der National-Universität für Kunst und Kultur in Kiew ehrenhalber zum Professor ernannt wird? In Russland sind offenbar wieder schlimme Zeiten angebrochen, wenn man den Kremlpalast – immerhin der Ort, an dem Gorbatschow einst die Reformen verkündete und die KPdSU fast 30 Jahre tagte - nun mit einer ganzen Serie von „Modern Talking Reloaded“-Auftritten (allerdings ohne Dieter!) substanziell entwertet. Immerhin: Thomas Anders macht die Bude voll und bringt wieder Leben in die Sülze. Wo dereinst die ganz großen Räder der Geschichte gedreht wurden und es um Fragen ging, ob man etwa mit dem Verbleib der Atomraketen auf Kuba einen Atomkrieg riskieren will, geht es heute um die ebenso drängende Frage, welchen Blazer Anders zu seinem Auftritt tragen wird; den Weißen oder den Schwarzen? Und vor allem: mit oder ohne Schulterpolster? Die gute Nachricht für uns alle lautet aber: Wer Karriere machen, vom Volk geliebt und es zu wissenschaftlichen Ehrungen bringen will, für den führt dieser Tage kein Weg an Mütterchen Russland vorbei. Das Beispiel von Thomas Anders zeigt ja anschaulich, dass in der Heimat der Matrjoschkas auch das kleinste Püppchen groß rauskommen kann. Der zugehörige Artikel bei Spiegel-Online HIER!